"Sagenhafter Bernstein"

Viele Geschichten und Sagen ranken sich um die Entstehung des Bernsteins. Die schönste und ergreifenste finde ich in den 2000 Jahre alten Metamorphosen des römischen Dichters Ovid.
Ovid hat sich von vielen früheren Sagendarstellungen inspirieren lassen, z.B. auch von dem Griechen Nikander von Kolophon - kommt daher auch der Begriff "Kolophonium"?

Der Sonnengott Helios und seine Frau Klymene gaben den ständigen Bitten ihres Sohnes Phaeton nach und erlaubten ihm, den Sonnenwagen zu fahren. Das Verhängnis nahm seinen Lauf; die Rösser merkten, dass nicht ihr Herr die Zügel führte und liefen aus der Bahn.
Die verheerende Folge: der Wagen gerät in Brand und Phaeton stürzt hinab auf die Erde in den Fluss Eridanus.
Zeus ist außer sich vor Wut, macht Helios große Vorwürfe und straft ihn zusätzlich zum Verlust seines Sohnes damit:
die Schwestern sollen die Gebeine des Bruders am Eridanus bestatten, dann selbst zu Pappeln werden und ihre Tränen, die in den Fluss fallen, sollen Bernstein werden (so interpretiert es der griechische Schriftsteller Lucian).

Rubens, 1604: Der Sturz des Phaeton


Viel schöner hört es sich natürlich als direkte Übersetzung Ovids an (Metamorphosen Buch II, Seite 304 ff):
"... Phaeton aber wirbelt, verheert seine Haare von roten Flammen, jäh hinab und stürzt durch die Lüfte in lang sich ziehender Bahn... Auf nahm der große Eridanus ihn an dem anderen End des Erdrunds, der Heimat fern, spült er ab sein rauchendes Antlitz.
Nymphen des Wests übergaben dem Hügel den Leib... Denn es verhüllte und barg in erbarmungswürdiger Trauer gramvoll der Vater sein Haupt...
Auch des Sonnengotts Töchter, sie trauern nicht minder, sie weihn der Tränen vergebliche Spende dem Tod: mit den Händen die Brüste schlagend, rufen sie Tag und Nacht den Bruder... da klagt Phaethusa, der Schwestern größte, die eben gewillt sich zu Boden zu werfen, ihr seien starr die Füße geworden. Die lichte Lampetie suchte hin zu kommen zu ihr - und wird von Wurzeln gehalten.
Hier schickt die Dritte sich an, das Haar mit den Händen zu raufen - Blätter reißt sie da ab. Die klagt, dass im Stamm ihr die Schenkel haften und die, dass die Arme zu langen Zweigen ihr werden.
Während sie staunen, siehe! umwächst ihre Weichen die Rinde, schließt sich schrittweise um Leib, um Brust, um Schultern und Arme; frei allein nur bleibt der Mund, und er ruft nach der Mutter.
Was soll die Mutter tun? Als, wie es sie treibt, sich hierhin, dorthin zu wenden und Küsse, so lang es vergönnt ist, zu tauschen. Doch nicht genug! Sie versucht, aus den Stümpfen die Leiber zu reißen, bricht mit den Händen dabei die zarten Zweige, da rinnen blutig rot wie aus Wunden hevor aus dem Bruche die Tropfen.
... Und es wächst in die letzten Worte die Rinde. Tränen rinnen aus ihr. Erstarrt in der Sonne, als Bernstein tropfen sie ab vom frischen Gezweig, es empfängt sie der klare Strom und sendet sie hin, dass Latiums Töchter sie tragen."

Oder auszugsweise aus dem Oiginal in Latein:
"Inde fluunt lacrimae stillataque sole rigescunt de ramis elevtra nouis, quae lucidus amnis excipit et nuribus mittit spectanda Latinis."

Viele Dichter haben diese Sage aufgegriffen, so auch Euripides einige hundert Jahre später:
"Eilt ich bin zu der Flut des Meers,
die an Adrias Felsenstrand anbraust,
hin zum Eridanos, wo zur schwellenden Purpurwoge
des Phöbos unseligste Jungfrauen,
um Phaethons Schicksal voll Schmerz
in die Flut Tränen träufeln
mit goldenem Glanz."

Eine ganz andere Herkunft des "sagenhaften" Bernsteins finden wir in der Jurate-Sage:
Der Legende nach wohnte die Meeresgöttin Jurate in einem prächtigen Unterwasserschloß, das ganz aus Bernstein erbaut war. Einst verliebte sich Jurate in den Fischer Kastitis und holte ihn zu sich in ihren unterseeischen Palast.
Wegen dieser Verbindung mit einem Menschen zürnte Perkunas, der Vater der Jurate, mit seiner Tochter, tötete den Kastitis und zerschmetterte das Bernsteinschloß. Bis heute werden die Trümmer als Bernsteinbrocken an die Küste der Ostsee gespült und ein Denkmal in Palanga erinnert an diese Begebenheit (Mesenzew 1990, S. 23f.).


Poeninus – der mythische Berggott

Und noch nie so viele „äääää“ gesehen

 

Dank Willy’s Vorarbeit bekam ich Kontakt zu einer Strahlergruppe in der Schweiz. Die Strahler (Strahlner) sind alpine Mineraliensucher, die hauptsächlich schöne Kristalle in Klüften suchen.

 

Pirmin, ich schätze ihn auf mindestens 75 Jahre, ist einer der erfahrensten Strahler und hat riesige Mengen toller Kristalle gefunden und viele den heimischen Museen vermacht. Mit seinen knapp 1,60 m passt der schlanke, drahtige Bergmensch auch in kleine Klüfte und hat dadurch einen enormen Vorteil. Darum beneiden ihn manchmal seine etwas jüngeren „Fründ“ Louis, Vitus und Eduard, mit denen er häufig auf Suche gegangen ist. Es gibt nur eine „Hampfälä“, mit denen man problemlos gehen kann; ganz viele sind „Glünggi“, mit denen man nur „Ehritz“ bekommt.

 

Nur Dank Willy’s Fürsprache lies sich Pirmin darauf ein, uns mit in den Berg zu nehmen und wir mussten ihm versprechen, nicht „z’leid wäschä“, was wohl soviel bedeuten sollte, dass wir niemandem davon erzählen dürften.

 

Donnerstag früh, noch im Halbdunkel, trafen wir uns. Pirmin entschuldigte sich für sein „Schuderhäuäl“, er hätte zu lange „bänzä“ (übersetzt: Pirmin hatte verschlafen und noch ungekämmtes Haar). Diese vielen „äää“, fast in jedem Wort steckte mindestens eines und wir hätten uns wohl gut unterhalten können, wenn wir nur ä – ä – ä gesagt hätten. Ansonsten redete Pirmin nicht gerne und schon gar nicht viel. Die wenigen unverständlichen urschweizer Worte waren auch aus der Situation heraus zu verstehen. Die wesentlichen Dinge übersetzte Vitus, der recht gut Deutsch sprach und verstand.

 

Das Auto stellten wir in eine Einfahrt zu einer Bergwiese, dann ging’s in zügigem gleichmäßigen Tempo bergab, bergauf und nach 1-2 km überquerten wir wieder die Straße, auf der wir angefahren waren. Wieso dieser Riesenumweg, der doch nur Kraft kostete? Das sei wegen der „Glünggi“, die ihn manchmal heimlich verfolgten, denen er einen falschen Weg vorgaukelte, einen „Höpperli machä“.

 

Für Pirmin unverständlich: Ich wollte nur nach Bernstein suchen, dabei gäbe es doch viel wertvollere „Strahlen“. Aber ihm sei es recht, wir würden etwas finden … Nach Stunden mit wenig kleinen Pausen erreichten wir einen steilen Hang, den wir nur mühsam hinaufzuklettern schafften. Pirmin setzte seinen Strahlstock geschickt als Haken ein, während ich mich an kleine und größere Bäumchen hielt.

 

Dann war es endlich soweit. Aus mir nicht zu erschließendem Grunde zeigte Pirmin auf ein zum Teil freiliegendes Felsband – von denen ich meinte, schon einige gesehen zu haben. Er hackte in kleine Risse und brach Gesteinsstücke heraus. Ich erkannte nichts, doch Pirmin meinte, das sei die richtige Stelle, hier fänden wir Bernstein. Aber erst mal Pause.

 

So schweigsam Pirmin die ganze Zeit gewesen war, nun fing er an zu erzählen. Er hätte ihn sogar schon einmal gesehen, als er seinen Riesenhammer schwang und ihn auf den Berg niedersausen ließ. Es gab einen Funkenregen bei Blitz und Donner. Das tut Poeninus seit Urzeiten, wenn ihn etwas ärgert. Die Funken sind so heiß, dass sie bis in den Fels ziehen und dort als Kristalle erkalten. So ist auch der Bernstein mitten in das Gestein gelangt. Das passiert zum Glück nur bei Gewitter und Regen, sonst wären die Wälder schon längst verbrannt. Ganz genau konnte er den Berggott nicht erkennen, aber er war sehr, sehr groß. Während die Kristalle in den Klüften sehr hart geworden sind, ist der Bernstein mitten im Stein weich geblieben und kann immer noch wieder anfangen zu brennen. Auch den Teufel hätte er schon gesehen, er hockte in einer Baumwurzel und hätte glühende Augen. Als Pirmin seinen Strahlstock hob und einen Schritt auf ihn zutrat, verschwand er in der Tiefe. Eigentlich sei er ungefährlich, wenn man sich sittlich benähme …

 

Nach der Pause begann auch ich meine Arbeit mit Hammer und Meißel. Ab und zu grummelte Pirmin, nahm mir das Gerät aus der Hand und setzte selbst an. Erstaunlich, wie leicht das aussah, wie leicht die Felsplatten unter seinen Händen auseinandersprangen – man musste nur die richtige Stelle treffen. Und dann das Herzklopfen, als auf beiden Seiten der zersprungenen Platte gelbliche und rötlich-gelbe Bernsteine blitzten. Ich legte ein Taschentuch zwischen die Hälften, wickelte sie in Zeitungspapier und verstaute sie in meinem Rucksack. Pirmin hatte mittlerweile auch schon einige fündige Gesteine herausgebrochen, lies aber alles liegen oder den Hang hinunterrollen – zu kleine Fitzel … Das fand ich nicht und sortierte einige kleine, aber sehr schöne Stücke aus, die eingewickelt ebenfalls in meinem Rucksack landeten.

 

Mehr rutschend als kontrolliert steigend ging es bei mir den Hang hinab, der Rücksack war sehr, sehr schwer. Pirmin schüttelte häufig den Kopf und klopfte mir unten auf die Schulter und freute sich sichtlich, dass ich glücklich war. Ich musste ihm noch einmal versprechen, niemandem etwas von der Stelle zu erzählen und wenn die „Fächtär“ (schon wieder diese „ääää“) kämen, dann solle ich nichts abgeben. Am besten erst gar nichts zeigen, das gäbe nur „Chädärätä“ und „brätschä“. Und für das nächste Mal solle ich mir ein vernünftiges „Rääf“ bauen, zum „chrääzäbuggätä“ und nicht solch einen Rucksack benutzen, da drücken die harten Steine zu sehr auf den Rücken…

 


Später beim Bier, Pirmin wollte nach dem zweiten schon ins Bett, schaffte ich nach mehreren Anläufen es tatsächlich, einige Worte so auszusprechen, dass Vitus es verstand und es übersetzen konnte. „Rääf“ sollte ein Gestell sein, das man auf dem Rücken trägt, und „chrääzäbuggätä“ bedeutete wohl fast dasselbe, nämlich huckepack auf dem Rücken tragen.